Thesen zur Anfertigung guter Übersetzungen

von Thomas Reschke

Im Winter 92/93 erregte ein beispielloser Vorgang die Gemüter der Insider: Ein Dutzend namhafte literarische Übersetzer, an der Spitze Burkhart Kröber (italienisch) und Klaus Birkenhauer (englisch), hatten in einem offenen Brief an den Bertelsmann-Verlag schwerste Vorwürfe erhoben, weil dieser mit dem Roman Lemprières Wörterbuch von Lawrence Norfolk eine Übersetzung (von Hanswilhelm Haefs) auf die Leser losgelassen habe, die mit schauerlichen Mängeln behaftet sei. Daraufhin habe ich mir die Übersetzung angesehen und befunden, daß sie schlecht ist bis zur Unverständlichkeit der deutschen Fas­sung.

Der Spiegel veröffentlichte eine Rezension eines russischen Romans, des­sen Übersetzung das Prädikat „kongenial“ erhielt. Darin findet sich der Satz: „Sie zog ihr Kleid an wie eine Flamme.“ Gemeint: Sie zog ein Kleid an, das (mit seinen Farben) wie eine Flamme aussah. Eine von der Presse gelobte Übersetzung eines russischen Erzählungsbändchens enthielt folgenden deut­schen Satz: „Sie standen auf dem von Sonnenblumenkernen bespuckten Per­ron.“ Drei Fehler in einem kurzen Satz: Sonnenblumenkerne können einen Perron nicht bespucken, gemeint sind außerdem nur die Schalen von Sonnenblumenkernen, die man beim Knabbern der Kerne ausspuckt, und statt „Perron“ sollte es „Bahnsteig“ heißen. In der gepriesenen Übersetzung eines Aitmatow-Romans steht der Satz: „In der Mitte des Sees hielt er sein Boot an und setzte das Angelgerät.“ In deutscher Sprachvorstellung läßt sich ein Boot nicht „anhalten“, man kann allenfalls die Riemen einziehen. Und: „setzte das Angelgerät“ täuscht einen Terminus technicus vor. „Setzen“ in diesem Sinne gibt es nicht, und „Angelgerät“ ist ja die Gesamtheit der Angelutensilien; die Übersetzerin hat außerdem übersehen, daß das „Angelgerät“ ein paar Zeilen weiter als eine simple Schnur mit einer Bleikugel am Ende und einem Haken darüber beschrieben wird. In den Feuilletons der anspruchsvolleren Presse fin­den sich häufig Rezensionen von übersetzten Titeln (die etwa ein Drittel aller literarischen Werke ausmachen) – die Übersetzung wird meistens gar nicht er­wähnt, und wenn doch, wird die Qualität oder Nicht-Qualität allenfalls be­hauptet, fast nie aber argumentiert.

Woher diese Unsicherheit bei der Beurteilung der Qualität einer literari­schen Übersetzung? Ich neige nach über 35 Jahren als Russischübersetzer zu der Überzeugung, daß nur ein quantitativ und qualitativ ausgewiesener Be­rufskollege das wirklich beurteilen kann. Dem eingangs erwähnten Dutzend Übersetzer wurde zum Vorwurf gemacht, einen Kollegen in die Pfanne gehauen zu haben. Mag sein. Dennoch haben sie richtig gehandelt, denn welche Alternative hätten sie gehabt, die Öffentlichkeit auf das Qualitätsproblem der Übersetzungen aufmerksam zu machen?

Die im Titel dieses Beitrags gestellte Frage ist ebensowenig bündig zu be­antworten, als wäre nach der Güte von Literatur oder Malerei gefragt. Ob­wohl Übersetzer Hemmungen haben, ihre unglaublich vielseitige Arbeit als „Kunst“ einzuordnen, gebe ich zu bedenken, was ein Übersetzer etwa von Grass‘ Blechtrommel oder von Lenz‘ Exerzierplatz in eine Fremdsprache zu leisten hat. Und ein Autor ist der Übersetzer allemal: nämlich der Autor der deutschen Fassung – was der Leser liest, ist nicht Tolstoi oder Dickens oder Balzac, sondern das, was der jeweilige Übersetzer daraus gemacht hat. Das kann Tolstoi Dickens Balzac sein, aber auch ganz was anderes. Die Frage nach der Qualität läßt sich nur mit einer Reihe von Einzelthesen (Qualitäts­merkmalen, Anforderungen an den Übersetzer) beantworten, und diesen Ver­such will ich hier einmal wagen. Meine Erfahrungen entstammen der Über­setzung ausschließlich russischer Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, aber ich bin überzeugt, daß sie – mutatis mutandis – für alle Sprachen gelten.

Grundsätzlich gilt: Eine literarische Übersetzung soll auf den Leser in der Zielsprache im Großen und im Detail die gleiche rationale und emotionale Wirkung haben wie das Original auf den Leser in der Ausgangssprache. An­ders ausgedrückt: Da, wo der Originalleser lacht oder weint, soll auch der Le­ser der Übersetzung lachen oder weinen. Aber es lassen sich auch Thesen formulieren, die teils Denkanstöße, teils auch praktische und technische Hin­weise, keineswegs jedoch Anleitung zum Handeln für eilige Rezensenten sind.

Bezogen auf die Ausgangssprache (z.B. Russisch):

Eine literarische Übersetzung ist gut,

  • wenn sie einen bestimmten Umfang nicht übersteigt. Übersetzungen aus dem Russischen sind immer länger als das Original (etwa 20%), weil es im Russischen weder bestimmte und unbestimmte Artikel noch Hilfsverben gibt. Die Anschläge eines Originals lassen sich zählen: Anschläge pro Zeile mal Zeilenzahl pro Seite mal Seitenzahl. Die so ermittelte Zahl der An­schläge des Werkes wird multipliziert mit 0,00062, und man hat die Manu­skriptseitenzahl der deutschen Übersetzung. Wird diese Seitenzahl am En­de überschritten, so ist anzunehmen, daß die Übersetzung geschwätzig, wässerig ist. Wird sie unterschritten, so ist sie wahrscheinlich dicht, straff.
  • wenn der Wortschatz des Originals annähernd erreicht wird. Hat ein fremd­sprachliches Original einen Wortschatz von achtzigtausend Wörtern, so ist die Übersetzung umso besser, je näher ihr Wortschatz dieser Zahl kommt.
  • wenn sich der Übersetzer an den „inneren roten Faden“ hält, den jedes lite­rarisch wertvolle Werk in sich hat. Gemeint ist der sprachliche Ablauf, die Gesamtheit des Stils, der in der Zielsprache nacherlebbar sein muß. Ich hatte mal die Übersetzung eines schönen Essays über Tschechow zu redi­gieren. Die Zeit war knapp, die Übersetzung gut, ich arbeitete nur vom Deutschen her, doch jedesmal, wenn ich auf eine „weiche“ Stelle stieß und ins Original schaute, stellte sich heraus, daß die Übersetzerin vom „roten Faden“ abgewichen war und sich zu freierem Übersetzen verpflichtet ge­fühlt hatte. Daraus ergibt sich das anzustrebende Credo: Eine literarische Übersetzung sei so wörtlich wie möglich und dabei so deutsch wie mög­lich. Und dann soll auch noch das Kolorit des Originals durchschimmern. Nur langjährige Erfahrung läßt den Übersetzer den schmalen Grat zwischen den vielen Maximen finden.
  • wenn offene und kryptische Zitate erkannt und wiedergegeben wurden.
  • wenn eines der wesentlichen Stilmittel erkannt und wiedergegeben wurde: Kürze oder Länge der Sätze. Der Satiriker Sostschenko etwa schreibt einen fast asthmatischen Stil der kurzen Sätze, während z.B. Okudshawa in sei­nen historischen Romanen endlose Satzkonstruktionen verwendet, die kei­neswegs aufgelöst werden sollen.
  • wenn bei Phraseologismen, historischen, regionalen und Argotvokabeln der Grad der Geläufigkeit übertragen wurde. Ein Beispiel, bei dem dies nicht gelang: In Schukschins historischem Roman Ich kam euch die Freiheit zu bringen suchte ich nach einer Übersetzung für die russische Alltagsvokabel „schuba“ (Schaffellmantel), das deutsche Wort dafür mußte aus Kontext­gründen weiblich sein. Ein solche weibliche Alltagsvokabel fand sich im Deutschen nicht. In einem Modelexikon entdeckte ich das Wort „Schaube“, das sogar im Duden steht und genau diese Art Fellmantel bezeichnet, überdies etymologisch mit „schuba“ verwandt ist – nur die Geläufigkeit blieb auf der Strecke: wer weiß heute noch, was eine Schaube ist?
  • wenn Sprachranderscheinungen des Originals wie Jargon (Gauner, Jugend u.a.), Archaismen, Regionalismen, Berufsidiome u.a. erkannt und mit mög­lichst adäquaten Mitteln wiedergegeben werden. Dies ist im Russischen be­sonders schwierig beim Lagerjargon, für den es im Deutschen keine Ent­sprechung gibt. In den Lagern unter Stalin und seinen Nachfolgern haben Dutzende Millionen Menschen zumeist unschuldig im Archipel Gulag ein­gesessen und im Überlebensfalle den überaus reichen Lagerjargon, der sich an den Kriminellenjargon anlehnt, in das Umgangsrussisch eingebracht, aus dem er jetzt nicht mehr wegzudenken ist. In diesem Jargon spielen Be­schimpfungen eine enorme Rolle, und das entsprechende Vokabular ent­stammt ausschließlich der Sexualsphäre (im Deutschen der Fäkalsphäre). Da solche Vokabeln und Wortverbindungen in Rußland nie gedruckt wer­den durften (das beginnt sich jetzt zu ändern), wichen russische Schrift­steller stets auf euphemistische Formen aus (vergleichbar „Armleuchter“ statt „Arschloch“). Diese wiederum sind auch für erfahrene Übersetzer schwer zu erkennen, und wenn sie sie erkannt haben, geht die Arbeit los: 1. Verschlüsselung knacken, 2. das so Gefundene wörtlich ins Deutsche über­setzen, 3. es in deutsche (fäkale) Schimpfgepflogenheiten umdenken und 4. diese so verschlüsseln wie etwa im Original. Versäumt der Übersetzer einen dieser Arbeitsgänge, so entstehen im Deutschen Verwaschenheiten.
  • wenn der Übersetzer Stilmittel wie Ironie, Humor, Sarkasmen usw. durch entsprechende sorgfältige Wortwahl und Satzbau wiederzugeben verstan­den hat.
  • wenn eine der schwersten Übersetzeraufgaben bewältigt wurde: erkennbar das mit herüberzubringen, was im Original zwischen den Zeilen steht (eine in einer Zensurdiktatur wie der sowjetischen nicht seltene Sache).
  • wenn Realien wie Ortsnamen, historische Personennamen, Gegenstände und ähnliches sorgfältig recherchiert und in richtiger Schreibweise wieder­gegeben wurden. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten, auf die man stoßen kann: In russischen Bauernhäusern ohne direkte Wasserleitung hängt an der Wand ein Wassergefäß, das immer nachgefüllt werden muß. Im Boden des Gefäßes ist eine kleine Stange als Ventil, die mit der Hand hochgeschoben wird, um Wasser zu spenden. Das Ding heißt russisch „rukomoinik“ (Hand­wascher), aber wie deutsch? Vor etlichen Jahren sah ich zu meinem Er­staunen im Melanchthon-Haus zu Wittenberg solch ein Ding und fragte er­wartungsvoll den Kustos, wie das heißt. Die Antwort: „Wasserblase“. Man begreift, daß ich so klug war wie zuvor.
  • wenn der Grad der Verschleifungen und Normabweichungen in den Dialo­gen des Originals herübergebracht wurde. In der hastigen Umgangssprache werden ja ganze Silben verschliffen, und das wird nicht selten in der Litera­tur zur Charakterisierung von Personen benutzt. Auf eine einfache Formel gebracht: Wenn das Original um 20 Prozent von der sprachlichen Norm abweicht, sollte die Übersetzung – kontra Duden und Schuldeutsch – um genauso viele Prozent von der Norm abweichen.
  • wenn der Russischübersetzer es vermieden hat, seinen Text mit Namens­diminutiven zu überfrachten. Beispiel: Der Sohn von Pasternaks „Doktor Schiwago“ heißt mit Vornamen Alexander, Sascha, Saschenka und Schura. Wenn der Übersetzer dies mechanisch übernimmt, gefährdet er die Ver­ständlichkeit seines Textes. Die emotionalen Nuancen dieser Namens­varianten kann ohnehin selbst ein gewiegter Russischübersetzer nicht im­mer nachempfinden. Analog verhält es sich mit den russischen Vaters­namen. Ich behaupte, daß eine Romanseite, auf der siebenmal der Name Nikanor Grigorjewitsch vorkommt, für einen deutschen Leser schwer zu lesen ist. Besser ist es, den Nachnamen zu benutzen (außer in der Anrede) oder auch mal den Beruf, den Verwandtschaftsgrad oder ein Personal­pronomen zu verwenden. Versteht sich, daß das sehr behutsam gemacht werden muß.
  • wenn Stilfiguren des Originals erkannt und wiedergegeben wurden, z.B. Anaphern, Epiphern, Epizeuxis, Vokalassonanzen, gewollte Reime, gewollte metrische Formen und andere, die sich alle in den Standardwerken der deutschen Stilistik nachlesen lassen.

Bezogen auf die Zielsprache (Deutsch):

Eine literarische Übersetzung ist gut,

  • wenn Sätze, Bilder, Vergleiche und Beschreibungen innerlich stimmig sind. Bei komplizierten Handlungsabläufen innerhalb städtischer oder ländlicher Räume mache ich mir schon mal eine Skizze, um die innere Logik nach­prüfen zu können.
  • wenn die Sätze ihre innere Spannung haben, d.h. wenn die wichtigsten Satzaussagen an den stilistisch betonten Stellen stehen – am Satzanfang oder Satzende.
  • wenn jeweils am Satzende sinntragende Wörter stehen: Verben, Substan­tiva oder Adverbien, nicht aber Klapperwörter (hat, war, ist usw.).
  • wenn behutsam deutsche Phraseologismen eingesetzt wurden: alliterierende Wortpaare, deutsche Sprichwörter und stehende Redensarten.
  • wenn der Übersetzer sich als Wortschatzgräber und Sprachpfleger empfin­det und den Reichtum der deutschen Sprache voll ausnutzt, um auch klein­ste Nuancen herüberzubringen.
  • wenn der Übersetzer die wenigen Reste des deutschen Konjunktivs (dessen Sterben wir miterleben) sorgsam benutzt und damit konserviert, die in Mode gekommenen abscheulichen „würde“-Konstruktionen vermeidet und statt dessen lieber den Indikativ verwendet.
  • wenn der Übersetzer noch eine Fülle von Kleinigkeiten weiß, die auch von seriösen Schreibbeflissenen häufig mißachtet werden. Zur Illustration ein paar Beispiele, die man immer wieder liest: „Aus aller Herren Länder“ statt „Ländern“; „bevor ich dich nicht gut kenne, kann ich dir das nicht sagen“ – hier muß das erste „nicht“ gestrichen werden, da es in einen mit „solange“ beginnenden Satz gehört; der wesentliche Unterschied zwischen „zu zweit“ und „zu zweien“ wird sehr oft mißachtet; die Vokabel „widerspiegeln“ ist sehr im Schwange, wo doch „spiegeln“ völlig ausreicht. Ich will hier keine Ergänzung zu Wustmanns Sprachdummheiten schreiben, sondern nur auf sprachliche Petitessen aufmerksam machen, die auch bei der Beurteilung der Qualität einer literarischen Übersetzung nicht unwesentlich sind.

Alle diese Qualitätsmerkmale (und sicherlich noch viele andere) zusammen­genommen sind Indizien für eine gute Übersetzung. Ich selbst habe noch ein ganz persönliches Qualitätsmerkmal: Eine literarische Übersetzung ist gut, wenn man bei der Lektüre schieres Vergnügen empfindet und den Wunsch hat, einzelne Sätze und Passagen nachzulesen und sich vielleicht sogar zu notieren oder einzuprägen.